fbpx

Wie der Waldgarten nach Deutschland kam

Waldgärten als nachhaltige Form der Landnutzung 

Überliefertes Wissen 

Das Wissen aus dem wir beim Design von Waldgärten schöpfen ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Durch eine ursprünglich unmittelbare Verbindung zur Natur und einen engen Bezug zur natürlichen Umgebung entstanden lange vor Beginn der landwirtschaftlichen Industrialisierung dauerhafte Landnutzungssysteme, die vor allem auf Beobachtung und Nachahmung der Natur begründet waren. Das Erfahrungswissen wie solche Systeme geschaffen und erhalten werden wurde über zahllose Generationen weitergereicht. Mancherorts kann man heute noch den Beweis in der Form von mehreren Tausend Jahre alten Systemen finden (Lawton 2011). 
Die Überbleibsel dieses Wissens sind auch heute noch in aller Welt zu finden und ernähren vor allem als kleinbäuerliche Ertragssysteme einen beträchtlichen Teil der Menschheit, vor allem jedoch außerhalb der westlichen Industrienationen. Man schätzt den Anteil der Weltbevölkerung, die von solcher kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft lebt, auf 40% (FAO 2015).  

Sicherlich haben diese Formen der Landnutzung auch bei uns in den klimatisch gemäßigten Wäldern Europas eine Rolle gespielt, war doch unsere Entwicklung von der Bronze- und Eisenzeit bis in die Neuzeit auch immer von Formen wie der Niederwaldwirtschaft begleitet. Neben dem Niederwaldbau, der vorwiegend der Gewinnung von Holz und Brennholz diente, wurde beispielsweise in Franken eine ‘Baumfeld’ genannte Form des Obstbaus betrieben, oder auch Baumgärten, wie im Umfeld der Stadt Bamberg (Hofmann 2015). Auch die vorwiegend in Süddeutschland als Kulturlandschaft erhaltenen Streuobstwiesen entstanden ursprünglich als silvo-pastorales Waldwirtschaftssystem. 
Während in den Tropen die Entwicklung und Erforschung von sogenannten Agroforst-Wirtschaftssystemen seit den 70er Jahren einen Anfang fand wurde in den gemäßigten Breiten dieses Wissen erst in jüngerer Zeit von einigen Pionieren wiederentdeckt. Hier spielen sie erst in den letzten 10-15 Jahren eine zunehmend anerkannte Rolle als nachhaltige Form der Landnutzung mit Potential für die Zukunft. 

Junger Waldgarten in Dossenheim (Bild: Jörn Müller)

Am eigenen Ast sägen 

Im Zuge der Industrialisierung wurde dieses alte Wissen in Mitteleuropa nach und nach ersetzt und baumbasierte Kulturformen in der Landwirtschaft abgelegt. Stattdessen wurde ein Weg eingeschlagen, der vor allem – und leider fast ausschließlich – marktkapitalistischen Prinzipien folgt. Die moderne agrarindustrielle Landnutzung mit ihren unaufhörlichen und schweren Eingriffen in natürliche Kreisläufe und Prozesse hat uns in mehrere tiefe Krisen geführt: Unsere Böden sind nahezu leblos und stark degradiert, der Humusgehalt schwindet weiter, mit der Folge dass die Böden weniger Wasser halten können. Der Stickstoffkreislauf ist mit einem ständigen Überschuss in Böden und Gewässern völlig aus dem Gleichgewicht.

Die weiter schwindende Vielfalt an Arten und Strukturen in der Landschaft führt zu biologischen Einöden und so lassen sich unsere Ackerflächen nur noch mithilfe einer ganzen Palette an synthetischen Giften und Düngemitteln erfolgreich bewirtschaften. Nach jetzigem Trend bleibt uns mit der heute vorherrschenden Bewirtschaftungsform wohl höchstens noch ein halbes Jahrhundert, bevor wir alle fruchtbaren Böden unwiederbringlich zerstört haben (Heinrich Böll Stiftung 2015, FAO 2015, Umweltbundesamt 2020).  
Das Problem der Bodendegradierung steht jedoch nicht allein, sondern ist ein Teil der Verkettung diverser Belastungsgrenzen welche die Menschheit im Erdzeitalter des Anthropozän bereits überschritten hat (Steffen et al. 2015, PiK 2019). 

Zurückzuführen mag diese Situation wohl vor allem auf unsere „kultivierte Ungeduld“ sein, unser Versuch sich über die zeitlichen Begrenzungen und Bedingungen natürlicher Entwicklung hinwegzusetzen, gepaart mit der menschlichen Hybris, natürliche Systeme „optimieren“ zu wollen, oft ohne vorher deren Funktionsweise ausreichend verstanden zu haben.  


Die wissenschaftliche Priorisierung der Erforschung unserer Böden ist beispielhaft dafür: Obwohl sich die Bodenkunde seit dem frühen 20. Jahrhundert als Wissenschaft etabliert hat und Erforschungen des Bodens eine lange Tradition haben, wurden Böden im ganzheitlichen Kontext der Ökosysteme (z.B. im Bereich der Ökopedologie oder Ökohydrologie) erst seit den achtziger Jahren erforscht, ein knappes Jahrzehnt nachdem der Mensch bereits auf dem Mond gelandet war. Bis heute bleibt unser Wissen über die Biologie und Biochemie des Bodens, vor allem seine systemischen Kreisläufe und Wechselbeziehungen als ‘soil food web’, sehr bruchstückhaft.
Auch deswegen spielen unsere Böden und deren Pflege in der Gesetzgebung und Ausübung der agrarindustriellen Produktion eine untergeordnete Rolle. Man geht heute davon aus, dass ein Großteil der Spezies auf der Erde bisher noch nicht einmal entdeckt wurden (Mora et al. 2011), so auch in Bezug auf das Bodenleben. Entsprechend weit sind wir von einem Verständnis der komplexen Lebensbeziehungen auf diesem Planeten entfernt. 

Wir hören den Ast also schon knacken, während wissenschaftlich fundierte Warnungen weiterhin zugunsten eines weltwirtschaftlichen Auslaufmodells in den Wind geschlagen werden und die Kosten an unsere Folgegenerationen weitergereicht werden.
Trotz alledem überzeugen wahrhaft nachhaltige Ideen letztendlich immer durch ihre Schlüssigkeit und ihren praktischen Nutzen und finden früher oder später einen Weg verwirklicht zu werden. International sind die Konzepte von ‚food forests‘, ‚forest gardens‘ und ‚edible landscapes‘ schon einige Jahrzehnte in Gebrauch. Gezielte Forschung ist zwar in der englischsprachigen Literatur gut dokumentiert, jedoch fehlt neben vielfältigen qualitativen Erkenntnissen bisher eine breite Basis an quantitativen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über Waldgärten, sowie Erhebungen, wie diese wirtschaftlich tragfähig und ökologisch angepasst zugleich als Landwirtschaftssysteme betrieben werden können. 

Der Eingang des von Martin Crawford angelegten Waldgartens in Devon, UK. (Bild: Jörn Müller)

‘permanent + agriculture = permaculture’ 

Die Permakultur und die Transition Town-Bewegung sind zwei globale Strömungen, die neben anderen das Waldgarten-Konzept nach Deutschland getragen haben und hier für dessen Etablierung eine wichtige Rolle spielten.  


Die Permakultur versteht sich als Designansatz und „Werkzeugkiste“ zur Erschaffung permanenter Systeme der Landnutzung in Einklang mit der Natur. Hier spielen Waldgärten als ausdauernde Ertragssysteme schon seit Beginn eine wichtige Rolle. Mitbegründer Bill Mollison zeigt bereits im frühen Dokumentarfilm (1989) „In Grave Danger Of Falling Food“ anschaulich, wie effizient Ertragssysteme sein können, wenn sie sich am Vorbild des Ökosystems Wald orientieren. Sein Schüler und Kollege Geoff Lawton führt heute sein Erbe fort und hat an vielen Orten der Welt Waldgartensysteme etabliert. Am eindrücklichsten ist wohl sein Projekt ‚Greening the Desert‘ in Jordanien, in welchem er eindeutig beweist, dass solche Systeme selbst unter harschesten Bedingungen nachhaltig funktionieren (Greening the Desert 2020). 


Der Permakultur e.V., der sich unter anderem der Qualität der Permakultur-Ausbildung in Deutschland verschrieben hat, hat Waldgärten zu einem festen Bestandteil des Curriculums des Permakultur-Design-Kurses (PDK) gemacht. An dieser 72-stündigen „Grundausbildung“ für Permakultur-Praktiker und am Kursangebot zu Permakultur kann man ablesen, welche Wichtigkeit Waldgärten als integratives System und flexibles Konzept haben (Permakultur-Institut und Permakultur-Akademie e.V. 2020). Aus dieser Strömung sind spätestens seit den 90er Jahren die ersten Waldgärten in Deutschland entstanden, wohl aber vorrangig im privaten Bereich, und oft nicht ausdrücklich als solche benannt. Erst seit die Suche nach nachhaltigen und nicht zerstörerischen Alternativen zu unserer derzeitigen Form der Landnutzung auch hier zum Thema geworden ist, rücken Waldgärten als multi-funktionale Lösungen für diese Probleme in den Vordergrund. 

Teich im Waldgarten in Dartington. (Bild: Jörn Müller)

Der Große Wandel 

Über die letzten Jahrzehnte zeichnete sich das Ausmaß der kommenden Krisen immer schärfer ab und führte letztlich zur Erkenntnis dass der Mensch, will er denn seine Spezies erhalten, schleunigst nach Alternativen zu fossilen Energieträgern und allgemein nach nachhaltigeren Lösungen suchen muss. Hier ist die Rede von der ‘Großen Transformation’ hin zu einer nachhaltigeren und faireren Verteilung und Nutzung von Ressourcen (Hopkins 2014, WBGU 2012). 

Von dieser Idee beseelt wuchs vor etwa einem Jahrzehnt in England die Transition Town-Bewegung heran und verbreitete sich von dort aus in alle Welt, um in lokalen Graswurzel-Initiativen einen Wandel zu bewirken. Mittlerweile sind im weltweiten Transition-Netzwerk weit über 1000 Gruppen offiziell eingetragen, und man kann davon ausgehen, dass weit mehr Gruppen von diesem zukunftsweisenden und pragmatischen Ansatz inspiriert sind. Die Tätigkeitsbereiche sind so vielfältig wie die Gruppen selbst und erstrecken sich über Energiegewinnung, Umweltbildung, Nahrungserzeugung, und vieles mehr. 

Erfolgreiche Beispiele urbaner Landnutzung als “essbare Parks”, wie beispielsweise eines der Pionierprojekte in Großbritannien, Incredible Edible Todmorden, haben hierzulande Nachahmung erfahren. In „Essbaren Städten“ wie Andernach und Kassel, um zwei der ältesten Initiativen zu nennen, werden auf eindrucksvolle Art integrierte systemische Lösungen zu den heutigen Herausforderungen umgesetzt. Diese und andere Initiativen zeigen eine Nachfrage der Stadtgesellschaft nach neuen Konzepten zum Mitmachen für “Essbare Städte”. Das Konzept Waldgarten kann dabei für diverse aktuelle Herausforderungen auch in Städten Lösungsansatze bieten. Es bedarf jedoch noch einer genaueren Erforschung welche Vielfalt an Nutzen aus einem durchdacht gestalteten Waldgartensystem in Städten entstehen können. In der folgenden Abbildung ist die Vielfalt an ökologischen, ökonomischen und soziokulturellen Nutzen und deren Verbindung schematisch dargestellt und zeigt, wie sich diese Funktionen überlagern und durchdringen. 

Grafik: Nutzenvielfalt von Waldgärten. Permagrün. Lizenz: CC-BY-NC-ND 3.0

Die urbane Allmende 

Die Allmende, historisch gemeinschaftlich genutzte Flächen von Weiden, extensivem Ackerland und Niedrigwaldwirtschaft, war seit jeher neben seiner ökonomischen Bedeutung auch immer eine Abbildung einer sozialen Gemeinschaft. Analog wäre heute im urbanen Kontext ein Waldgarten-System denkbar und denkenswert, das als dezentrale und krisenfeste Einrichtung von Flächen zum Nahrungsmittelertrag, als Begegnungs- und Bildungsort und zur Naherholung für jeden Stadtteil dient.  

Heute gibt es große Nachfrage von Stadtbewohnern, sich anhand von urbanen Gärten sowohl beim Thema der Nahrungsmittelproduktion als auch innerhalb neuer Formen von Gemeinschaft zu erproben. Dabei entsteht zunehmend die Forderung der Gartenaktiven an die Verwaltungen der Stadtentwicklung, urbane Gärten nicht nur als Zwischennutzung auf Brachflächen in Städten zuzulassen, sondern langfristige Standortsicherungen und „dauerhaftes Wurzeln“ im Boden zu ermöglichen, wie es beispielsweise im ‘Urban Gardening Manifest’ im Namen vieler Urban Gardening Initiativen bundesweit (Anstiftung 2018) gefordert wird.  


Angesichts der vielfältigen Anforderungen an städtische Grünflächen, besonders hinsichtlich ökologischer und sozialer Funktionen, haben Waldgärten das Potential, sowohl urbanes Gärtnern und urbane Lebensmittelproduktion zu ermöglichen. Zusätzlich kann durch ein hohes Grünvolumen der Vegetation eine positive Klimawirkung erreicht werden, und gleichzeitig kann durch die Entwicklung eines naturnahen, waldartigen Gartens ein Lebensraum mit hoher Vielfalt an Pflanzen und Tieren entstehen.  


Seit 2018 wurden dazu im Projekt ‘Urbane Waldgärten’ durch ein Team der Universität Potsdam erforscht, welche Anknüpfungsmöglichkeiten im Bereich der Stadtentwicklung und welche Umsetzungsmöglichkeiten und Hürden derzeit konkret für die Entwicklung von Waldgärten in deutschen Städten gegeben sind. Das Projekt startete im Juli 2018 mit einer zweijährigen Voruntersuchung in einem Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben mit dem ausführlichen Titel “Waldgärten als langfristige, multifunktionale Flächennutzung im urbanen Raum” und wurde durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit gefördert. Dabei soll mit urbanen Waldgärten ein in Deutschland bisher wenig bekanntes Konzept auf städtischen Grünflächen entwickelt, praktisch erprobt und wissenschaftlich begleitet werden. 

Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der langfristigen Etablierung der Waldgärten (über das Projektende hinaus) und setzt dabei zur Verstetigung auf die Eigenverantwortung der beteiligten Bevölkerungsgruppen, welche von Anfang an durch Beteiligungsprozesse einbezogen wurden. Eine Kooperation mit Umweltbildungsträgern und die Entwicklung von Grünen Lernorten sind weitere Aspekte zur Verstetigung der Pilotprojekte. So müssen für diese neuartige Gestaltung, Nutzung und Pflege von städtischem Freiraum in Form von gemeinschaftlichen Waldgärten in gemeinsamen Prozessen neue gesellschaftliche Partnerschaften gefunden und erprobt werden. Ein bundesweites Verbundprojekt zur Umsetzung von urbanen Waldgärten ist für einige städtische Standorte geplant und eine öffentliche Förderung beantragt. Dabei liegt neben der praktischen Erprobung und Fragen der Übertragbarkeit auch ein Schwerpunkt auf der Kommunikation von Ergebnissen und der Vernetzung von Akteuren.  

Das in den genannten Feldern gesammelte Wissen und die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte schlagen sich nach und nach in fachlichen Organisationen, Initiativen und Institutionen nieder und bündeln so private und gesellschaftliche Interessen.

Apfelbaum im ‘Grünheck’. (Bild: Jörn Müller)


Wissenszuwachs 

Im Themenbereich “Regenerative Landwirtschaft” und bei Versuchen, geschlossene Ressourcenkreisläufe zu entwickeln, spielen auf Bäumen basierende Systeme eine vornehmliche Rolle. Im Rahmen des Symposiums „Aufbauende Landwirtschaft“ wird dem Humusaufbau und der Bodenpflege eine zentrale Rolle zugemessen und damit auch nachhaltigen Ertragssystemen wie Waldgärten und Agroforst-Systemen. (Aufbauende Landwirtschaft 2020, Scheub & Schwarzer 2017).  
Die “Stiftung Lebensraum” in der Nordpfalz ist ein Beispiel für wachsende gemeinnützige Bestrebungen in der Bodenpflege noch einen Schritt weiter zu gehen und den Aufbau und die Regeneration unserer Böden durch einen Humuszertifikathandel in die allgemeine landwirtschaftliche Praxis einzuführen. Dies ist bereits in der Steiermark in der Ökoregion Kaindorf mit großem Erfolg gelungen (Stiftung Lebensraum 2020, Ökoregion Kaindorf 2020, Dunst 2011).  


Hinter all diesen Bemühungen steht dabei die Erkenntnis, dass ökologisches Handeln keinesfalls einer Wirtschaftlichkeit im Weg steht, sondern im Gegenteil, dass es wirtschaftliche Nachhaltigkeit nur geben kann, wenn wir uns in angemessener Weise und zukunftsorientiert um die Ressourcen Boden und Wasser kümmern.  

So zeigen auch Pilotprojekte in der Agroforstwirtschaft, die sich auch des Konzeptes Waldgarten bedienen, kommerzielles Potential für die Landwirtschaft. Entsprechend ist man bestrebt, diese Agroforstsysteme für die landwirtschaftliche Praxis förderungsfähig zu machen. Mit der Gründung des Dachverbandes für Agroforstwirtschaft DeFAF 2019 bekommen diese Anstrengungen in Deutschland erstmals einen formalen Rahmen. Dennoch spielen komplexere Agroforstsysteme wie Waldgärten in diesem Kontext bisher eine eher untergeordnete Rolle.  

In den Regionen der Welt die von den Folgen des Klimawandels am stärksten betroffen sind, ist ein ‚regenerative land management‘ vielerorts schon zwingend geworden. Hier beweisen auf Bäumen basierende Systeme ihren Nutzen in der Verbesserung ökologischer Funktionen. Erreichen diese Agroforstsysteme erst einen kritischen Anteil und die richtige Verortung in der Landschaft, dann sind in relativ kurzer Zeit beeindruckende Veränderungen im lokalen Ökosystem zu beobachten. Forschungen die dies in Deutschland quantifizieren stehen bisher noch am Anfang, und auch hier liegen die Schwerpunkte bisher auf weniger komplexen Agroforstsystemen. Demzufolge sind die Erfahrungen der Praktiker höchst hilfreich, um einen Impuls für diese Systeme und das Ausprobieren verschiedenster baumbasierter Systeme anzuregen. 

Planungsskizze für die Erstbepflanzung des Waldgartens ‘Grünheck’ (Bild: Jörn Müller)

Entscheidende Schritte 

Die kleinen Erfolge deuten auf eine noch sehr junge, aber immens wichtige Entwicklung hin, nämlich das allmählich beginnende „Durchsickern“ des Konzepts von den Graswurzeln auf die Entscheidungsebene in Politik und Wirtschaft. Demnach bekommen auf Bäumen basierende Systeme nachhaltiger Landnutzung sehr zögerliche, aber immerhin anfängliche Aufmerksamkeit in der Stadtplanung, Landschaftsarchitektur und kommunalen Politik. Kommunen beginnen nach und nach auf der Suche nach flexiblen Lösungen die vielfältigen Potentiale von Waldgärten zu begreifen und beginnen sich für das Konzept von Waldgärten als multifunktionale Nutzung wertvoller innerstädtischer Flächen zu interessieren. 

Der ‘Masterplan Stadtnatur’ der amtierenden deutschen Regierung nennt Waldgärten als innovative Systeme für mehr Stadtnatur und mit Potentialen für Klimaschutz und -anpassung und bestärkt damit hierzulande den Bericht des Weltklimarats, der in Waldgärten, vor allem im urbanen Raum, ein großes Potential sieht, die negativen Folgen der Klimaerwärmung abzufedern (BMU 2019, IPCC 2019, FAO 2020). 

Der wichtigste nächste Schritt ist jedoch die Etablierung von Modellflächen und deren wissenschaftliche Begleitung – in Deutschland sind über das letzte Jahrzehnt zahlreiche, meist jedoch im privaten Bereich angelegte Flächen entstanden. Im Vergleich zu Martin Crawfords etwa drei Jahrzehnte altem System im südenglischen Dartington gelten diese natürlich noch als sehr junge Waldgärten und werden ihr volles ökologisches und produktives Potential erst über die kommenden Jahre entfalten. 

Bestand der oben skizzierten Fläche drei Jahre später. (Bild: Jörn Müller)

Auch wenn nicht alle der folgenden Projekte Waldgärten im idealen Sinne sind, sondern beispielsweise auch Gemüsegärten mit mehrjährigen Pflanzen umfassen, sind diese Flächen dennoch sehenswerte und interessante Beispiele für regenerative Landnutzungssysteme im Aufbau. Darüber hinaus zeigen die diversen Schwerpunkte der einzelnen Projekte, wie vielseitig das Konzept umsetzbar oder integrierbar ist. 
Die folgende Liste von Waldgärten ist nach Postleitzahl sortiert, sie ist beispielhaft und alles andere als ausschließlich zu verstehen. 
 

  • Peace of Land ist ein selbstverwalteter gemeinschaftlicher Permakultur- Waldgarten inmitten Berlins im Stadtteil Prenzlauer Berg, in dem seit 2017 Permakultur-, Waldgarten- und andere Kurse, u.a. in Trägerschaft des Permakultur Instituts e.V., stattfinden.   
    www.peaceof.land 
    10407 Berlin  
     
  • Der Ökohof Waldgarten in der Prignitz liegt außerhalb des Dorfes Barenthin. Etwa die Hälfte der bewirtschafteten Flächen ist arrondiert und als Waldgarten konzipiert, der sich seit fast 15 Jahren im Aufbau befindet.  
    16866 Barenthin 
     
  • Das Hotel Haferland an der Ostsee bedient die eigene Gastronomie aus einer Waldgartenlandschaft, die neben der biologischen Nahrungsmittelproduktion auch als Erholungsort für die Hotelgäste dient. 
    www.hotelhaferland.de/hotelgarten.html  
    18375 Wieck a. Darß  
     
  • Waldgarten der Zukunft – Im Rahmen des Projekts ‘Wir bauen Zukunft’ wurde 2017 in einem ehemaligen Wissenschaftspark bei Zarrentin am Schaalsee auf 5400qm ein Waldgarten angelegt. Teilbereiche enthalten einen ‘market garden’ und eine Agroforst-Streuobst-Anlage, auch wird der Waldgarten als Kursort genutzt. 
    www.wirbauenzukunft.de 
    19246 Zarrentin 
     
  • Als Waldgarten würde Frits Deemter seinen Essgarten bei Bremen eher nicht bezeichnen. Mit Sicherheit ist er jedoch mit etwa 1000 Spezies eine der größten europäischen Sammlungen von Nutzpflanzen. Der Hauptaspekt ist das dabei das gastronomische Angebot mehr oder weniger exotischer essbarer Pflanzen. 
    www.essgarten.de 
    27243 Harpstedt / Winkelsett 
     
  • Waldgarten Verden –  In der Nähe der Kleinstadt Verden bei Bremen entsteht seit 1998 dieser sieben Hektar große Permakultur-Waldgarten mit 358 nutzbaren/essbaren Kulturgehölzen in 88 Arten und Sorten, über 50 Arten von Stauden und verschiedenem einjährigen Gemüse. 
    allmende.bplaced.net 
    27283 Verden  
     
  • Der PermaKulturRaum ist ein studentischer Experimentierraum der Georg-August-Universität Göttingen. Studierende sammeln hier Praxiserfahrung in Bezug auf die Planung und Gestaltung eines Ortes nach Permakultur-Prinzipien. 
    permakulturraum.de 
    37077 Göttingen 
     
  • Der Hof Lebensberg in der Nordpfalz ist ein Praxisbetrieb für regenerative Landwirtschaft und Agroforst im Aufbau. Hier sollen über die kommenden Jahre viele Tausende Bäume als Agroforst-Ertragssysteme gepflanzt werden. 
    www.hoflebensberg.de 
    67823 Obermoschel 
     
  • Das Grünheck ist ein Ackerstreifen mit altem Obstbaumbestand in der Nähe von Heidelberg. Er dient als Experimentierfläche und Kursort für Waldgärten und geht nun ins fünfte Jahr. 
    www.permagruen.de 
    69120 Dossenheim 
     
  • Waldgarten Schloss Tempelhof  
    Lehr- und Präsentationsgarten mit dem Schwerpunkt ausdauernde Gemüsearten. 
    www.der-essbare-waldgarten.de 
    74594 Kreßberg 
     
  • Der essbare Waldgarten am Stadtrand von Wels ist einer der ältesten Food Forests Mitteleuropas. Er wurde in den Achtzigern von Herrmann Gruber gepflanzt, seit 2007 ist der Waldgarten Lernort für Permakultur und Praktikanten aus aller Welt. 2016 gründete Hermann Gruber mit Sohn Bernhard das Österreichische Waldgarten-Institut. 
    permakultur.wordpress.com  
    4600 Wels / Österreich 
     
Junger Waldgarten in abendlicher Herbstsonne. (Bild: Jörn Müller)

Die neue alte Kulturlandschaft 

Ein Waldgarten ist letztlich weit mehr als nur eine Ansammlung von Bäumen und Sträuchern auf einer Fläche, sondern sein Designansatz ist als Set von Gestaltungsprinzipien zu verstehen, nach denen auf einer Fläche ein lebendiges waldähnliches Ökosystem mit vielfältigen Nutzen wachsen und entstehen kann. 

Abbildung: Waldgärten als Form der Landnutzung. Von permagruen, CC-BY-NC-ND 3.0

Die Nutzen werden von diversen Elementen erfüllt, z.B. Obstwäldchen oder essbare Waldränder, dazwischen liegende Lichtungen, Teilbereiche zum Gemüseanbau und für andere denkbare Funktionen. Die Anordnung dieser Elemente zueinander ist so flexibel, dass sehr sensibel auf die Anforderungen jedes Standorts eingegangen werden kann. Wir beginnen nicht hier einen Park zur Naherholung und dort einen Gemeinschaftsgarten zu gestalten, weil wir mit dem Waldgarten-Ansatz in der Lage sind, beides (und mehr!) an einem Ort zu vereinen.  

Dabei bleibt das Konzept skalierbar und erlaubt die Gestaltung solcher Systeme auf kleinen innerstädtischen Flächen und in Hinterhöfen, etwa als multifunktionale “essbare Parks”, aber auch als mehrere Hektar umfassende nachhaltige Ertragsflächen mit positivem Klimabeitrag und regenerativem Nutzen. 

Am wichtigsten ist jedoch, dass ein Waldgarten die kulturelle Errungenschaft wiederbelebt, das Land auf vielfältige Art in Einklang mit der Natur zu nutzen.  
Damit würde wohl auch das Verantwortungsbewusstsein für die “treuhänderische” Aufgabe wieder zurückkehren, mit der Ressource Land nicht ausbeuterisch, sondern angemessen und enkeltauglich umzugehen. Im Englischen kommuniziert der Begriff „stewardship“ diese Haltung sehr treffend und findet deswegen auch im Deutschen Einzug, um den Umgang mit natürlichen Ressourcen und Landschaften zu charakterisieren. So kann ein Waldgarten diese alte naturnahe (Agri-)Kultur zurück in die Landschaft bringen und den Stadtmenschen neu “kultivieren” und wieder mit der Natur verbinden – nicht zuletzt indem zukünftig immer mehr Waldgärten in Städten und auf dem Land gemeinschaftlich genutzt und gepflegt werden. 

Von Jörn Müller und Jennifer Schulz.

Zuerst abgedruckt im Buch “Einen Waldgarten erschaffen” von Martin Crawford, 2021 erschienen beim OLV.

Quellen

Titelbild: Jörn Müller; CC-BY-NC-SA 3.0

Von Jörn Müller

Jörn Müller ist durch seinen Drang zur Nachhaltigkeit über die Jahre vom Kulturwissenschaftler über den Baumpfleger und den Gartenbauer zur Permakultur gekommen. Heute wendet er als Waldgärtner deren Prinzipien auf das Design, die Planung und Umsetzung von Ökosystemen für den menschlichen – und vor allem enkeltauglichen - Nutzen an. Besonders prägend war für ihn der Forest Garden Design Course bei Martin Crawford im südenglischen Dartington, einem der ältesten Waldgartensysteme im gemäßigten Klima. Zuletzt übersetzte er dessen Waldgarten-Handbuch Creating A Forest Garden (erscheint im Juni 2021 bei OLV). Er experimentiert seit 2017 im Grünheck, einer Fläche im nordbadischen Dossenheim mit Waldgartenprinzipien und Pflanzengemeinschaften, Techniken für geschlossene Ressourcenkreisläufe wie Kompostierung, Mulchwirtschaft und Pflanzenkohle, und vermehrt für Waldgärten besonders geeignete Nutzpflanzen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mit der Natur Arbeiten – Anstatt Dagegen.

Wissen | Kompetenz | Gestaltung | Praxis | Profession